Deutschlands Tempo-Grundsatz für Städte und Dörfer stammt aus dem Jahr 1957. Seitdem gilt innerorts, also nach dem Passieren des gelben Ortsschilds, als Maximum eine „Regelgeschwindigkeit“ von 50 Stundenkilometern. Davon dürfen Bürgermeister, Gemeinderäte und Einwohner-Mehrheiten nicht abweichen, auch wenn sich alle einig sind. Rasches Durchfahren hat nach dem deutschen Recht Vorrang vor Sicherheit und gutem Leben vor Ort. Und der Satz in Artikel 28 des Grundgesetz, nach dem Gemeinden „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung regeln“, gilt nicht für den örtlichen Verkehr.

Die Straßenverkehrsordnung und die sie ergänzenden Verwaltungsvorschriften (abgekürzt VwV-StVO) machen die Einführung von Tempo 30 kompliziert, oft schwer und manchmal unmöglich. Zunächst unterscheiden sie zwischen Tempo-30-Zonen und Tempo 30 auf Abschnitten von einzelnen Straßen.

 

Tempo 30 in der Zone

Tempo-30-Zonen sind nach § 45 Absatz 1 c der Straßenverkehrsordnung‚ „insbesondere in Wohngebieten und Gebieten mit hoher Fußgänger- und Fahrradverkehrsdichte sowie hohem Querungsbedarf“ vorgesehen. Aber längst nicht überall, wo viele Menschen wohnen, zu Fuß und per Rad verkehren und quer über Fahrbahnen gehen müssen. Derselbe Paragraf verbietet es, in Tempo 30- Zonen „Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen)“ einzubeziehen oder auch „weitere Vorfahrtstraßen“. Es darf in Tempo-30-Zonen keine Ampel geben – oder sie müssen bei ihrer Einführung abgeschaltet werden. (Das gilt aber nur für Zonen, die ab November 2000 eingerichtet sind.) Auch weiße, durchbrochene Leitlinien müssten erst von der Fahrbahn getilgt werden. Nach einer anderen Vorschrift, den VwV zum § 26 der StVO, soll es in Tempo-30-Zonen noch nicht einmal Zebrastreifen geben.

Vor allem aber muss eine Gemeinde, bevor sie für ein Gebiet Tempo 30 festlegt, „das innerörtliche Vorfahrtsstraßennetz“ festlegen – so die VwV-StVO in der Randnummer 37 zu § 45. „Dabei ist ein leistungsfähiges, auch den Bedürfnissen des öffentlichen Personennahverkehrs und des Wirtschaftsverkehrs entsprechendes Vorfahrtstraßennetz sicherzustellen.“ Mit anderen Worten: Will eine Gemeinde den einen Bewohnern Tempo 30 vor dem Fenster gönnen, dann muss sie zugleich definieren, welche anderen an einer „leistungsfähigen Vorfahrtsstraße“ wohnen müssen. Diese Bestimmung zwingt Städte und Dörfer, ihre Bürger gegeneinander auszuspielen.

 

Tempo 30 auf Vorfahrtsstraßen

Wer das Pech hat, an einer Vorfahrtsstraße zu leben, der kann noch hoffen, in der Nähe von „Kindergärten, -tagesstätten, -krippen, -horten, allgemeinbildenden Schulen, Förderschulen für geistig oder körperlich behinderte Menschen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern“ zu wohnen. Tempo 30 ist nämlich in deren Nähe auch auf sogenannten Hauptverkehrsstraßen möglich – jedenfalls, wenn solche Einrichtungen „über einen direkten Zugang zur Straße verfügen oder im Nahbereich der Einrichtungen starker Ziel- und Quellverkehr mit all seinen kritischen Begleiterscheinungen (z. B. Bring- und Abholverkehr mit vielfachem Ein- und Aussteigen, erhöhter Parkraumsuchverkehr, häufige Fahrbahnquerungen durch Fußgänger, Pulkbildung von Radfahrern und Fußgängern) vorhanden ist“. So VwV-StVO in der Randnummer 13 zum Zeichen 274.

Auch hier setzt das tempo-verliebte Bundesrecht weitere Grenzen: Tempo 30 darf nur im „unmittelbaren Bereich der Einrichtung und insgesamt auf höchstens 300 m Länge“ gelten. Das hat in vielen Städten zu Chaos geführt: Schilder mit Tempo 30 und 50 wechseln sich alle paar hundert Meter ab. Oft wissen Autofahrer nicht mehr, was gerade gilt. Oder sie sind so vom Erscheinungsbild der „Hauptverkehrsstraße“ beeinflusst, dass sie das Schild nicht ernstnehmen oder kaum wahrnehmen. Noch komplizierter wird die Sache, weil Tempo 30 nur zu den Öffnungszeiten der Einrichtungen gelten darf – vor Krankenhäusern also immer, vor Schulen nur von 7 bis 17 Uhr. Lärmschutz-Gesetze ermöglichen Tempo 30 auch vor Wohnhäusern in der Nacht. Es kann also sein, dass auf einen Tempo-30-Abschnitt von 7 bis 17 Uhr ein paar Meter Tempo 50 folgen, dann Tempo 30 von 22 bis 6 Uhr, wieder 50 und dann Tempo 30 rund um die Uhr. Und es kann auch sein, dass Tempo 30 nur in einer Richtung gilt, aber auf der Gegenspur weiter mit 50 gefahren werden darf.

 

30 muss zur Regel werden

Kurz: In Sachen Tempo 30 ist das Recht verwirrend und es verhindert eher Verkehrssicherheit und gute Ortsqualität, als sie zu fördern. Es ist ein gordischer Knoten, und den kann man bekanntlich nicht aufdröseln, sondern nur durchschlagen. Wie das gehen kann, wird seit Jahrzehnten von den Freundinnen und Freunden der Verkehrssicherheit gefordert: Tempo 30 wird zur Regel und 50 allenfalls als Ausnahme gestattet - und das nur dort, wo es für Anwohner nicht zu laut wird und wo Fußgänger und Radfahrer nicht gefährdet sind, weil sie eigene gute Wege haben und wo sie trotzdem sicher über die Fahrbahn kommen.

Das könnte wie die bisherigen Vorschriften bundesweit zentral geregelt werden. Oder aber die Gemeinden können selbst bestimmen, ob in ihrem Sprengel 50 oder 30 die Regel ist. Das klingt zwar im ersten Moment nach noch mehr Verwirrung. Aber in der Wirklichkeit wird sie weniger, denn wer in den Ort fährt, muss sich nur noch ein Schild merken und weiß dann: 30 gilt überall – es sei denn, ein weiteres Schild regelt es anders. Zudem kommen dann selbst tempo-fixierte Bürgermeister und Stadträte unter Druck, mehr für die Sicherheit ihrer Bürger zu tun. Wer weiterhin gefährliche Raserei zulässt, dem droht die Abwahl. Fast alle Städte und Gemeinden würden sich freiwillig für Tempo 30 als Regel entscheiden. Das Leben auf der Straße wäre dann auch rechtlich viel einfacher und sicherer als heute.

 

Mehr vom FUSS e.V.: Verkehrsrecht auf die Füße stellen!

Die oben stehenden Forderungen für Tempo 30 als Regel sind Teil eines großen Änderungspakets zum Verkehrsrecht, das der FUSS e.V. erarbeitet hat. Alle Vorschläge und Forderungen - nach letztem Stand 66 - gibt es auf dieser Seite zum Download.